Auszug aus dem Reisetagebuch von Uli:
Endlich in Roja angekommen, sitzen wir im idyllischen Kleinsthafen und genießen die Ruhe. Wir freuen uns, dass wir die Mittsommernacht (in Lettland am 23.6.) in diesem kleinen, possierlichen Dorfstädtchen erleben – hier wird ja nix los sein oder passieren, wie damals in Göteborg, als sie uns die Flagge von Bord klauen wollten…
Die Stille wird jäh durch laute Stimmen und Gelächter durchbrochen, als immer mehr Heerscharen von bunt gekleideten Menschen – die Damen in langen Röcken und Blumenkränzen auf dem Kopf – über die nahegelegene Brücke ziehen und zielstrebig hinter der nächsten Baumgruppe verschwinden.
Wir werden stutzig und warten darauf, ob sie auch wieder zurück kommen, was aber nur vereinzelt geschieht.
Sollte hier doch ein “Mittsommer-Happening” stattfinden?
Wir raffen uns auf und schlendern scheinbar ziellos in die gleiche Richtung. Kurz darauf hören wir laute Musik und Gelächter und entdecken ein Garten-Wald-Restaurant mit Tanzboden unter den Bäumen.
Betont desinteressiert flanieren wir vorbei und beobachten genau aus den Augenwinkeln, was da vor sich geht.
Die Sitzbänke unter Pavillons und die beleuchtete Tanzfläche sind voll besetzt, die Musik geht in Richtung lettischem Schlager und alle – jung und alt – scheinen viel Spaß zu haben.
Das interessiert uns jetzt aber richtig und wir betreten die Lokalität – erstmal mit leichter Befangenheit.
Wir organisieren uns zwei Pints Mezpils und stellen uns etwas abseits an eine Wand und beobachten…
Jetzt sehen wir, dass nicht nur die Damen und Mädchen bekränzt sind, sondern auch einige Herren üppige Kränze aus Eichenlaub tragen. Das Alter geht von 3 bis 80, bunt gemischt durcheinander. Der Kleidungsstil ist ebenfalls gemischt – von kurzer Hose, Jeans bis lange, bunte Kleider, von barfuß bis Turnschuhe und Pumps.
Die Musik wechselt von Schlager über volkstümlich zu lettischem Pop und viele tanzen, zu zweit, zu dritt und bis zu 14 Personen im Rundtanz. Auch die Kleinsten beherrschen ein paar Tanzschritte und machen mit.
Besonders gefällt uns ein jugendliches Pärchen, das die wohl gerade erlernten Tanzschulschritte mehr recht als schlecht und mit viel Spaß ausprobiert.
Inzwischen haben wir Sitzplätze ergattert. Uns gegenüber setzen sich drei Jugendliche, zwei Mädchen und ein Junge. Die eine scheint Liebeskummer zu haben, sitzt mit Schmollmund und tränigen Augen rum und fingert ständig auf ihrem Handy rum. Zwischendurch legt sie ihren Kopf auf die verschränkten Arme auf den Tisch, um Minuten später wieder zu “erwachen”, um ein paar Tanzbewegungen im Sitzen zu machen “Aah, it`s so good!” oder um zu rauchen. “Can I smoke?” werden wir gefragt.
Das andere Mädchen scheint das Seelenleid der Freundin nicht zu kümmern und fragt uns aus, wo und wie wir herkommen und erzählt im holperigen Englisch, dass sie für ein Praktikum 6 Wochen in Frankfurt war. Freut sich, ein paar deutsche Worte sagen zu können und möchte wissen, ob uns die Musik gefällt. “We are a little bit amused but all is great and very nice and we are wondering that young and old people are dancing together to the same music here – in Germany is it not usually…” Lachend nicken sie. “That`s Latvija!” sagen sie und sind stolz auf ihr Land.
Der Junge – etwas pfannkuchengesichtig und pickelig – sitzt dabei und scheint ein Auge auf die adrette, kokette Fröhliche geworfen zu haben – nur leider traut er sich nicht…
Die Musikrichtung wechselt wieder und bei der lettischen Version von “Living next door to Alice” sind wir nicht mehr zu halten (nach dem zweiten Pint…) und stürzen uns ins Tanzgetümmel…
Erschöpft nehmen wir wieder unseren Beobachtungsplatz ein. Inzwischen ist die anfängliche Befangenheit völlig weg.
Eine großgeblümte, fröhliche Wuchtbrumme um die vierzig tanzt ausgelassen und schnappt sich für jedes nächste Lied einen anderen Herren – egal ob 20 oder 60 – und beherrscht teilweise – zusammen mit einem lustig hüpf-tanzenden Paar in “Gestreift” – die Tanzfläche.
Beleuchtet wird das ganze Szenario mit bunten Lichtern von der nebenliegenden Bühne des DJs und dem flackernden Licht einer großen Feuerschale. Der DJ legt nach Wunsch die Lieder auf und moderiert humorvoll das Geschehen. Das entnehmen wir zumindest dem einsetzenden Gelächter, denn zu verstehen ist für uns rein gar nichts.
Inzwischen haben sich die Reihen etwas gelichtet und einige stehen im Schein der Feuerschale und kuscheln ein wenig.
Trotz des hohen Bierkonsums (kein Schnaps o.ä.) der Gäste wird es nicht unangenehm, nirgendwo Torkelnde, die pöbeln oder anmachen.
Um uns herum – und bei uns – herrscht ausgelassene Fröhlichkeit.
Wir fühlen uns nicht als unerwünschte Zaungäste – obwohl wir ja offensichtlich die einzigen Nicht-Letten sind und die Kellnerin auf Deutsch fragt,ob sie die Gläser mitnehmen kann – wir sind mittendrin…!
Auch zur fortgeschrittenen Stunde (1:00) sind noch sehr viele Kinder anwesend und scheinen gar nicht müde zu sein.
Mittlerweile werden die Tänzer immer hemmungsloser und versuchen sich an kuriosen Tanzbewegungen, die bei den Damen an Akrobatik erinnert…
Wir verlassen das “Mittsommer-Happening” mit dem Kopf voller neuer Eindrücken und machen uns auf den Heimweg zur “ELSE”.
Wir kommen nach Hause in einem fremden Land, das uns ausgesprochen gut gefällt…